Ich bin selbst das Maß aller Dinge
- Klaus-Michael Jetter
- 1. Sept. 2024
- 2 Min. Lesezeit
Aktualisiert: 5. Jan.

Eine Ärztin in der Entzugsklinik hat zu mir, nachdem ich eine Krebsoperation hinter mir hatte, gesagt: "Ich an ihrer Stelle würde mich nicht unterkriegen lassen, bis zum Schluss."
Gemeint hat sie damit, dass ich, selbst, wenn ich wieder Krebs bekomme, bis zu meinem Tod keinen Alkohol mehr trinken sollte.
Das ist ein weiser Ratschlag, da Alkoholkranke, selbst wenn sie jahrelang keinen Alkohol mehr getrunken haben, dazu neigen, falls sie dann doch mal wieder Alkohol trinken, sofort rückfällig zu werden, um sich erneut im Teufelskreis der Sucht zu befinden. Oft noch viel hartnäckiger als zuvor. Ich weiß, wovon ich rede, da ich selbst miterlebt habe, wie ein an Leberzirrhose erkrankter Alkoholiker die Entzugsklinik verlassen hat, um sich zu Tode zu saufen. Kein schöner Anblick, vor allem für seine Familie nicht.
Luise Reddemann erzählt von Künstlerinnen, welche schwer traumatisiert waren und trotzdem, oder gerade deswegen, ihren individuellen Lebenssinn in ihrer Arbeit als Künstler fanden. Dabei erzählt sie auch, dass die Ausübung ihrer Kunst einen hohen Preis hatte. Eine Künstlerin verwendete z.B. Materialien, durch welche sie schwer krank wurde. Von einer anderen, über die Luise Reddemann schreibt, habe ich gelesen, dass sie übermäßig Alkohol trank, Zigaretten rauchte und, obwohl verheiratet, viele Affären hatte. Sie hat, so wird vermutet, ihrem Leben selbst ein Ende gesetzt.
Meine Mutter wurde 82 Jahre alt und ernährte sich am Ende ihres Lebens hauptsächlich von Alkohol. Durch das, dass sie keine feste Nahrung mehr zu sich nahm, litt sie an Eiweißmangel und nahm ab einem bestimmten Zeitpunkt die Abläufe in ihrem Leben nicht mehr sofort, sondern nur noch verzögert wahr. Ihre letzten Lebensjahre waren ein Siechtum.
Viktor Frankl meinte sinngemäß, dass man bis zum Tod die Möglichkeit hat, sich zu entscheiden, ob man als freier Mensch mit Würde sterben möchte. Nach seiner Meinung ist die Art zu sterben eine Frage der inneren Haltung und nicht der äußeren Umstände. Genauso verstehe ich die Aufforderung meiner Klinikärztin. Sterben Sie als freier und nicht als abhängiger Mensch.
Wenn ich jetzt aber lese, dass selbst Luise Reddemann, die ich für eine absolute Koryphäe auf dem Gebiet der Traumabehandlung halte, von Frauen schreibt, welche zwar Kraft aus ihrer Arbeit als Künstlerinnen schöpfen, am Ende sich aber selbst zugrunde richten, macht es mir wenig Hoffnung mich von meinen Traumata erlösen zu können.

Ich bin mittlerweile der festen Überzeugung, dass beinahe alle Menschen auf irgendeine Art und Weise in ihrem Leben traumatisiert worden sind. Aus Angst vor einer Konfrontation mit den Ursachen ihrer Traumatisierung und damit zusammenhängend einer erneuten Traumatisierung, sorgen sie, jeder auf seine eigene Art und Weise, ununterbrochen dafür, ihre Traumatisierungen auf einem bestimmten Level zu halten. Dazu gehören für mich mittlerweile buddhistische Mönche, welche ein Leben auf ihre eigene asketische Art und Weise verbringen, genauso dazu, wie haltlose Menschen, welche übermäßigem Genuss frönen.
Also macht es für mich schon Sinn zu sagen: "Ich bin selbst das Maß aller Dinge", auch wenn ich mich damit auf dünnem Eis des Größenwahns bewege, denn wer außer mir kann spüren, was meinem Leben einen Sinn gibt. Dieses Lebenssinn-Gefühl erfahre ich, unabhängig von äußeren Umständen meiner jeweiligen Lebensabschnitte, wenn ich schreibe.
Klaus-Michael Jetter
Spätsommer 2024
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