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Die Befreiung meines Selbst

Aktualisiert: 25. Juli

Kopf eines Kleinkindes mit schwarzem Stift auf weißem Hintergund gezeichnet

Vorbemerkung

Nach meiner Meinung kann man das Selbst nicht definieren. Allen Erkenntnissen, die in der Psychologie niedergeschrieben werden, liegen Wahrnehmungen zugrunde. Wahrnehmungen, welche je nach eigener Denkweise gedeutet werden. Wahrnehmungen, welche durch innere Schau erkannt werden. Wahrnehmungen, welche nicht objektiv sein können, sondern nur subjektiv. So wie sich in der Physik allein durch die Beobachtung eines Experiments der Ablauf des Experiments verändert, so verändert sich das Selbst bei der Beobachtung, d.h. es lässt sich nicht in Begriffen festhalten. Wenn ich versuche, mir ein Bild von meinem Selbst zu machen, geraten gleichzeitig andere Aspekte meines Selbst aus dem Blick.



Die Definition des Begriffs Spiritualität als eine unmittelbare Anschauung einer nicht erklärbaren transzendenten Wirklichkeit kommt den Gedanken, die ich hier ausführe, nahe.


Anschauung selbst wird definiert als "die unmittelbare (nicht durch Begriffe und Schlüsse vermittelte) Erfassung eines konkret gegebenen Objektes in dessen (räumlich-zeitlicher) Bestimmtheit" (http://www.zeno.org/Eisler-1904/A/Anschauung#google_vignette).


Es ist, glaube ich, wenn überhaupt, nur möglich, das Selbst durch unmittelbare Anschauung wahrzunehmen und man kann es nicht durch Begriffe oder Schlussfolgerungen ver- und ermitteln.


So, da haben wir's, das Selbst kann nicht durch "Begriffe und Schlüsse" ver- bzw. ermittelt werden, hat aber als konkret gegebenes Objekt eine räumlich-zeitliche Bestimmtheit.


Die Suche nach dem "wahren" Selbst in drei Phasen

(auszugsweise aus Originaltextstellen und frei nach Alice Miller aus dem Buch: "Das Drama des begabten Kindes und die Suche nach dem wahren Selbst" Anm. d. Verf.)


Alice Miller beschreibt in ihrem Buch: "Das Drama des begabten Kindes und die Suche nach dem wahren Selbst" in dem Kapitel "Auf der Suche nach dem wahren Selbst" auf zehn Seiten, bei einem Gesamtwerk von 177 Seiten, chronologisch in drei Phasen

die Findung des "wahren" Selbst mithilfe von Psychoanalyse auf dem Weg über das traumatisierte Selbst.


In der ersten Phase kann der Patient, dank der Hilfe des Analytikers, mehr von sich spüren, wenn ein Teil seiner gegenwärtigen Gefühle in den Therapie-Stunden gelebt und ernst genommen werden. D.h. sein Selbst klopft an die Tür.

In der zweiten Phase entdeckt der Analysand Introjekte* in sich und dass er in deren Gefängnis ist. Dieses Aufleben der Introjekte und die Auseinandersetzung mit ihnen bilden den Hauptteil der Analyse. In diesem Stadium werden frühe Gefühle der Ohnmacht, der Wut und des Ausgeliefertseins, die vom Schmerz des Nichtbegreifenkönnens der frühkindlichen Stufe begleitet sind, zum ersten Mal im Leben bewusst erlebt.


Dies ist meines Erachtens das bewusste Erleben, die unmittelbare Anschauung des frühkindlichen "wahren" Selbst. Wobei die unmittelbare Anschauung durch die frühkindlichen Gefühle (s.o.) ausgelöst werden.


Kopf eines Kleinkindes mit schwarzem Stift auf weißem Hintergund gezeichnet

Das "wahre" Selbst kann nicht kommunizieren, weil es in einem unbewussten und daher unentwickelten Zustand geblieben ist. Erst nach der Befreiung in der Analyse fängt das Selbst an, sich zu artikulieren, zu wachsen und seine Kreativität zu entwickeln. Es tut sich ein unerwarteter Reichtum an Lebendigem auf. Es ist nicht eine Heimkehr, denn das Heim hat es nie gegeben. Es ist eine Heimfindung.


In der dritten Phase beginnt die Trennung vom Analytiker, wenn der Analysand eine stabile Fähigkeit zu trauern erworben hat und sich auch Gefühlen aus der Kindheit aussetzen kann, ohne ständig auf den Analytiker angewiesen zu sein.



Ich habe mich in diesem Zusammenhang gefragt, warum die Fähigkeit zu trauern bei der Selbstfindung so wichtig ist. Alice Miller schreibt dazu, dass die Fähigkeit zu trauern dabei hilft, auf die Illusion über die eigene "glückliche" Kindheit zu verzichten.


Ich erlebe es im Alltag so mit, dass die Fähigkeit zu trauern mir dabei hilft, Konflikte ohne Egoismus zu lösen. Anstatt wütend zu sein, dass irgendwas nicht so läuft, wie ich es mir vorstelle, kann es mich auch traurig machen, aber nur dann, wenn ich meine Traurigkeit auch zulassen kann.


Was wirken sich die drei Phasen auf die Befreiung meines Selbst aus?


Ich werde, wie im Abschnitt vorher, meine Antwort auch in drei Phasen geben, da ich so dazu gezwungen werde, eine gewisse Ordnung in meine Gedanken zu bringen.


Zur ersten Phase

Die Trennung von meiner Frau fiel in die Zeit, als ich wegen meiner Tochter aufgehört habe, Alkohol zu trinken. Ich habe zu dieser Zeit in unzähligen Therapiestunden, während meines Entzuges, hemmungslos geheult, weil mich die Art, wie sich meine Frau von mir getrennt hat, zutiefst verletzt hatte. Meine gegenwärtigen Gefühle konnten gelebt werden und ich wurde ernst genommen.


Zur zweiten Phase

In dieser Phase bin ich noch und werde wahrscheinlich zum Teil auch lebenslang in ihr bleiben, da ich nicht glaube, dass ich mich je von meinen Introjekten ganz befreien kann.


Nach dem Entzug habe ich auf Anraten einer Therapeutin aus der Suchtklinik eine Therapie zur Behandlung meiner Traumata, derentwegen ich zum Alkoholiker wurde, durchgeführt. In dieser Therapie wurde ich mir das erste Mal in meinem Leben bewusst, dass ich traumatisiert bin. Dabei wurden ansatzweise meine Introjekte (u.a. mein, im psychischen Sinn, brutaler Stiefvater; meine sexbesessene Mutter) und deren Auswirkungen auf mich erkannt. Durch die Therapie kam erstmalig Ordnung in mein Denken, weil da ein Mensch war, der mir regelmäßig, wenn auch bezahlt, mit offenen Ohren zuhörte.


Ich spürte, dass es einen Weg aus meinem frühkindlichen Gedankenchaos geben kann. Allein durch das Wahrnehmen des Chaos konnte ich einen Teil meines "wahren" Selbst erfühlen. Mein Weg zur Befreiung von den Auswirkungen der Introjektionen hatte begonnen.


Durch den Kontakt mit meiner verstorbenen Zwillingsschwester erfahre ich selbstlose Liebe, die zum einen Freude, zum anderen Trauer in mir auslöst. So hätte es in meiner Kindheit sein können, war es aber nicht. Vor dem Hintergrund der selbstlosen Liebe kann ich meine Introjekte bemerken, die wie flüchtige Schatten auf einer weißen Leinwand sind.


In dem Moment, wo ich die Traurigkeit über das Allein-gelassen-worden-sein in meiner Kindheit spürte, sah ich mich von hinten oben in einem trostlosen Raum, auf dem

Boden sitzen. Ich sah zwar mein Gesicht nicht, wusste aber, dass ich das im Alter von zwei Jahren war. Ich konnte in dieser Szene nicht sprechen, aber es wurde in mir die Idee zu dem Titelbild dieses Beitrags über das freie Selbst geboren.


 Kinderkopffoto, nachdem das erste Bild in diesem Beitrag entstanden ist.

Die Skizze des Titelbildes machte ich nach einem Foto aus meiner Kindheit, welches mich im Alter von zwei Jahren zeigt. Die Inspiration zu diesem Beitrag kam dann durch die Erinnerung, dass ich von Alice Miller in ihrem Buch über das Drama des begabten Kindes etwas über Trauerarbeit in der Therapie gelesen habe.



Alice Miller schreibt, dass sich in der zweiten Phase das Selbst erst nach der Befreiung in der Analyse anfängt, sich zu artikulieren, zu wachsen und seine Kreativität zu entwickeln.


Ich persönlich halte Alice Miller für eine gute, weil menschliche Psychologin. Doch es gibt nach meiner Meinung keinen Generalplan für den Selbstfindungsweg. Die Selbstfindung läuft nicht nur linear - erst die Befreiung von den Introjekten und dann die Entwicklung des Selbst -, sondern auch analog - gleichzeitig auf mehreren Ebenen - ab.


In meinem alltäglichen Denken merke ich, dass ich oft viele gedankliche Hürden überwinden muss, um zu einer Entscheidung zu kommen, zu der ich stehen kann. Wenn ich insbesondere eine gute Idee habe, wird diese durch ein Introjekt sofort negiert. Wenn ich die Negierung bemerke, ziehe ich mich innerlich sofort zurück, um mir Klarheit über die möglichen Auswirkungen der Idee zu verschaffen. Im Gegensatz zu früher, wo ich meine Introjekten hilflos ausgeliefert war, habe ich heute, über reflektierendes Denken mithilfe der psychodynamischen imaginativen Traumatherapie und dem Kontakt mit dem bewertungsfreien Bewusstsein, die Fähigkeit entwickelt, mir objektiv ein Bild über eine Situation zu machen, um dann zwanglos zu entscheiden, was ich tue.


Das heißt, dass es allein schon ausreicht, mir der negativen Beeinflussung durch einen Aspekt einer Introjektion bewusst zu werden, um mein Handeln schneller frei wählen zu können. Das bedeutet aber nicht, dass ich von dem Introjekt befreit bin.


Die Introjekte schleichen immer in mir herum, wie Schatten meines Selbst. Wenn aber mein Selbstbewusstsein stetig stärker wird, fällt auch mehr Licht auf die Schatten und sie weichen ein Stück weit zurück, lauern aber weiterhin in der Dunkelheit auf die nächste Gelegenheit, mein Denken zu verdunkeln.

Kopf eines Kleinkindes mit schwarzem Stift auf weißem Hintergund gezeichnet

Dass meine Kreativität angefangen hat, sich zu entwickeln, sieht man an diesem Beitrag. Dass schrittweise, wenn auch in kleinen Schritten, eine Heimfindung stattfindet, spüre ich in mir und erlebe ich in meinem Alltag mit.




Zur dritten Phase

Von meiner Therapeutin bin ich zumindest im Alltag getrennt, psychisch wirkt sie noch weiter in mir. Ob ich eine stabile Fähigkeit zu trauern erworben habe, fängt sich erst an zu zeigen. Eine Bewährungsprobe erlebe ich gerade mit, weil gute Freunde dabei sind, sich von mir zu distanzieren, seitdem ich mir selbst folge und angefangen habe, meine Spiritualität, in welcher Form auch immer, in mein Leben zu lassen und auch zu leben.


Schlussbemerkung

Ich habe konsequenterweise im Ausdruck: "wahres Selbst", das Wort: "wahres" immer in Anführungszeichen gesetzt, da ich, wie in der Vorbemerkung ausgeführt, überzeugt bin, dass sich das Selbst nicht definieren lässt. Das Selbst ist eben das Selbst und weder wahr noch unwahr. Alice Miller führt eindeutig aus, dass das Selbst sich erst nach der Befreiung! von den Introjekten entwickeln kann, deswegen ist für mich der Begriff: "das freie Selbst" der bessere.


Das freie Selbst ist zwar erfassbar, aber nicht fassbar und erschafft sich ständig aus sich selbst heraus. Am meisten bemerke ich das Selbst durch sein Wirken in meinem Denken und Handeln.



Zu dem Thema Wahrnehmung möchte ich einen Beitrag schreiben, wie innerliche und äußerliche Bilder im Gehirn entstehen, weil ich glaube, dass das Wissen darüber dabei hilft, sich seiner Selbst bewusster zu werden.


Klaus-Michael Jetter




*"Introjekt: Aufnahme und Verinnerlichung unverarbeiteter, meist widerwilliger äußerer Realitäten, fremder Anschauungen, Motive, Werte und Normen ..."

"Introjektion ist das Gegenstück zur Projektion: Es wird ein beängstigender Aspekt der Außenwelt in das Innere aufgenommen. Dann kann sich die Person damit identifizieren und die Angst abwehren."



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